BTHG verabschiedet
Unser Einsatz hat einiges bewegt, es bleibt aber viel zu tun –
das Bundesteilhabegesetz muss wesentlich weiterentwickelt werden!
Bundestag und Bundesrat haben nach einem langen Prozess von Beratungen, Verhandlungen und zum Teil hitzigen Diskussionen das neue Bundesteilhabegesetz (BTHG) sowie einige es begleitende Gesetze beschlossen, der Bundestag am 1.12. und der Bundesrat am 16.12.2016. Nicht alle Erwartungen und Wünsche der Menschen mit Behinderung sind erfüllt worden, aber das nun beschlossene Gesetzespaket ist deutlich besser ausgefallen, als der Regierungsentwurf zunächst erwarten ließ. Viele der dort noch vorgesehenen Regelungen, welche die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung verschlechtert hätten, wurden zurückgenommen. Allein für das BTHG wurden 68 Änderungsanträge angenommen. Dennoch bleibt das Gesetz an vielen Stellen hinter den Forderungen der UN-Behindertenkonvention zurück.
Wir, das sind die Menschen mit Assistenzbedarf und die für sie eintretenden Verbände, Vereinigungen und Selbsthilfeorganisationen sowie die Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, werden deshalb weiterhin daran arbeiten müssen, dass das Ergebnis dieses langen Prozesses letztendlich gut wird.
Ab 2020 beseitigt das neue BTHG den bisher geltenden nach Hilfebedarfsgruppen festgesetzten Pflegesatz für Menschen mit Behinderung, die in einer stationären Einrichtung leben. Die Unterscheidung zwischen stationären, teilstationären und ambulanten Betreuungsformen wird aufgehoben. Es unterscheidet zukünftig zwischen Leistungen zur Eingliederung und Leistungen zum Lebensunterhalt und für Unterkunft und Heizung. Während die Leistungen zur Eingliederung aus dem Sozialhilferecht herausgenommen werden, bleiben die Leistungen zum Lebensunterhalt, Wohnen und Heizung Sozialhilfeleistungen – und damit Teil des nachrangigen Fürsorgesystems.
Was haben wir erreicht?
(Die folgende Liste kann nur einige wichtige Punkte aufnehmen)
- Die ursprünglich vom Gesetzesentwurf der Bundesregierung vorgesehene erhebliche Einschränkung des Zugangs zur Eingliederungshilfe kommt vorerst nicht. Vielmehr soll die Auswirkung der beabsichtigten Regelung in der Praxis zunächst in Modellvorhaben überprüft werden. Eine endgültige Entscheidung soll dann 2023 getroffen werden. Bis dahin verbleibt es im Wesentlichen bei der bisherigen Zugangsregelung.
- Leistungen der Eingliederungshilfe und der Pflegeversicherung stehen den betroffenen Menschen weiterhin gleichrangig nebeneinander zur Verfügung.
Neu eingeführt wird, dass die Leistungen der Hilfe zur Pflege von der Eingliederungshilfe umfasst werden, wenn Leistungen der Eingliederungshilfe bereits vor dem Erreichen der Regelaltersgrenze bezogen wurden. - Der geplante systemwidrige Vorrang der Leistungen zur Pflege gegenüber den Leistungen zur Eingliederung wurde gestrichen. Die Trennung zwischen förder-/teilhabefähigen und nicht förder-/teilhabefähigen Menschen wurde nicht umgesetzt.
- Für die Bereiche des Wohnens und der sozialen Beziehungen wurde auf die zwangsweise Inanspruchnahme von Assistenz für mehrere Menschen mit Behinderung, das sogenannte „Poolen“, verzichtet.
- Der Vermögensschonbetrag der Sozialhilfe wird voraussichtlich im Lauf des Jahres 2017 von 2.600 € auf 5.000 € angehoben. Der Zeitpunkt ist noch unklar, weil die Umsetzung durch eine Rechtsverordnung des Ministeriums erfolgen muss. (Die immer wieder genannten Anhebungen auf 25.000 € bzw. 53.000 € betreffen nur Menschen, die auf dem 1. Arbeitsmarkt tätig sind und keine Grundsicherung erhalten.)
Einige Dinge konnten wir leider nicht abwenden. Hierzu zählen u.a.:
- Die begrenzte Pflegepauschale von 266 € für Menschen, die in stationären Einrichtungen leben, wurde nicht nur nicht abgeschafft sondern auf Menschen ausgeweitet, die in Wohngemeinschaften im Rahmen des betreuten Wohnens leben.
- Die bisherige „Sonderregelung“ in § 55 SGB XII wird unverändert ins SGB IX übernommen. Danach können Menschen mit Behinderung im Einzelfall auch ohne ihr Einverständnis aus Einrichtungen der Eingliederungshilfe in Pflegeheime umgesiedelt werden, wenn nach Meinung des Leistungserbringers die notwendige Pflege mit den Entgelten der Eingliederungshilfe nicht mehr sichergestellt werden kann.
- In vielen der neuen Regelungen werden unbestimmte Rechtsbegriffe aufgenommen. Diese eröffnen Meinungsverschiedenheiten bei der Anwendung Tor und Tür und als Folge Rechtsstreitigkeiten – auf dem Rücken der Menschen mit Behinderung.
- Der UN-BRK-widrige Maßstab „Mindestmaß verwertbarer Arbeit“ als Kriterium für den Zugang zu einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung wurde leider beibehalten. Es bleibt so bei besonderen Tagesförderstätten für Menschen mit besonders hohem Förderbedarf.
- Obwohl die Bundesregierung in ihren Koalitionsvereinbarungen ein bundeseinheitliches Eingliederungsrecht vereinbart hatte, sieht das jetzt beschlossene Gesetz an vielen Stellen für die Bundesländer Möglichkeiten zur eigenen Gestaltung der Anwendung des Gesetzes vor.
- Das Vertragsrecht sieht u.a. Wirksamkeitsprüfungen vor. Da es bisher kein Kriterien zur Messung der Wirksamkeit von Eingliederungshilfemaßnahmen gibt, werden die diesbezüglichen Regelungen keine Verbesserung der Qualität sicherstellen sondern nur zu mehr Dokumentations- und Verwaltungsaufwand führen, auf Kosten der Assistenz- und Betreuungszeit.
- Es ist zu erwarten, dass die künstliche Trennung in die Bereiche der medizinischen Rehabilitation, der Teilhabe am Arbeitsleben und der sozialen Teilhabe zu Leistungslücken führen wird im Vergleich zum bisherigen einheitlichen Leistungsangebot. Für diese wird sich zukünftig niemand zuständig fühlen. Auch dies wird zu zeit- und kostenaufwendigen Prozessen führen. Leidtragende werden wiederum die Menschen mit Behinderung sein.
Liebe Leserin, lieber Leser,
auch wenn die Liste des Nichterreichten lang, zu lang ist, hat sich der Einsatz gelohnt. Ohne das Engagement aller oben Genannter wäre das Gesetz auch gekommen, aber noch viel weniger zufriedenstellend.
Allen, die sich eingebracht haben, um die Politik zur Einhaltung der Grundrechte und der Rechte aus der UN-BRK anzuhalten, möchte ich herzlich danken. Wir haben uns in gut demokratischer Weise eingemischt und so Wichtiges erreicht.
Anthropoi Selbsthilfe und meine Nachfolgerin Frau Nolte als Sozialpolitische Sprecherin für die Menschen in den LebensOrten und heilpädagogischen Schulen und deren Eltern und Angehörige werden in den kommenden Jahren große Kraft und viel Zeit dafür investieren müssen, die Schwachstellen der jetzt beschlossenen Gesetze nachzubessern. Hierzu wünsche ich allen Beteiligten viel Erfolg.
4. Advent 2016
RA Hilmar von der Recke