Kündigung des Wohn- und Betreuungsvertrags wegen Verhaltensauffälligkeiten
(aus: informiert! Johanni 2021)
Angehörige und rechtliche Betreuer*innen können mit dem Problem konfrontiert werden, dass die besondere Wohnform den Wohn- und Betreuungsvertrag (WBV) wegen Verhaltensauffälligkeiten der Bewohner*in kündigt. Für einen Menschen mit Assistenzbedarf beinhaltet dies einen gravierenden Einschnitt, da er ggf. seine gewohnte Umgebung und sein Zuhause verlassen muss. Aber auch Angehörige und rechtliche Betreuer*innen sind dann damit konfrontiert, ein neues Zuhause zu finden. Teilweise gestaltet sich dies beispielsweise bei Menschen mit herausforderndem Verhalten sehr schwierig. Nicht selten müssen in diesen Fällen rechtliche Betreuer*innen deutschlandweit eine Vielzahl an „Bewerbungen“ an besondere Wohnformen schreiben. In jedem Fall ist eine solche Suche belastend, zeitaufwendig und kann sehr lange dauern.
Die rechtlichen Anforderungen der Gerichte an die Wirksamkeit einer Kündigung des WBV wegen Verhaltensauffälligkeiten auch mit leichten Tätlichkeiten von Bewohner*innen, die als schuldunfähig einzustufen sind, sind allerdings hoch angesetzt.
Das Oberlandesgericht Oldenburg (OLG Oldenburg, Urteil vom 28. Mai 2020 – 1 U 156/19) musste sich mit einem Fall befassen, in dem einer Bewohnerin mit Demenz der WBV gekündigt worden war. Die Einrichtung begründete die Kündigung damit, dass die Bewohnerin sich leicht aggressiv gegenüber Pflegekräften sowie Mitbewohner*innen durch Anfahren mit dem Rollator und Boxen verhalte. Das Gericht stufte die Kündigung als unwirksam ein. Der für die Kündigung erforderliche wichtige Grund konnte durch die Einrichtung nicht nachgewiesen werden, da die Demenzerkrankung und das damit verbundenes Verhalten bereits bei Vertragsabschluss bestand. Die Bewohnerin lebte seit dem Einzug sogar in der Demenzabteilung der Einrichtung.
Auch das Landgericht Berlin (Urteil vom 06. Mai 2020 – 65 S 264/19) erachtete in einer Entscheidung die Kündigung des WBV durch die besondere Wohnform für unwirksam. In dem Fall war einer Bewohnerin mit psychischer Beeinträchtigung gekündigt worden, da diese Mitbewohner*innen beschimpfte, stundenlang schrie, leichte Tätlichkeiten ohne konkrete Gefahr für andere verübte und die gesamte Wohnung mit Gegenständen zustellte. Auch hier verwies das Gericht darauf, dass die Beeinträchtigung bereits bei Vertragsschluss bestand.
Dass Gerichte hohe Anforderungen an verhaltensbedingte Kündigungen bei Bewohner*innen mit Assistenzbedarf stellen, ist nicht verwunderlich. Bei dem WBVG handelt es sich um ein Schutzgesetz für die Bewohner*innen. Insgesamt kommt es aber immer auf den konkreten Einzelfall an, ob eine Kündigung des WBV als ultima ratio gerechtfertigt ist.
Aus Sicht von Anthropoi Selbsthilfe sollte im Interesse von Bewohner*innen und allen weiteren Beteiligten bei Problemen frühzeitig das Gespräch gesucht werden.
Wenn ein Wohn- und Betreuungsvertrag gekündigt wird, bedeutet dies nicht, dass die besondere Wohnform die Bewohner*in vor die Tür setzen darf. Zieht die Bewohner*in nicht aus, muss die besondere Wohnform in einem solchen Fall zunächst auf Räumung klagen. In dem Verfahren prüft das Gericht, ob die Kündigung wirksam ist. Auch die Bewohner*in kann sich im Fall einer Kündigung des Wohn- und Betreuungsvertrags Rechtssicherheit verschaffen und auf Feststellung der Unwirksamkeit der Kündigung klagen.
Übrigens ist bereits im SGB I berücksichtigt, dass die erforderlichen sozialen Dienste und Einrichtungen rechtzeitig und ausreichend zur Verfügung stehen. Durch das BTHG wurde mit § 94 SGB IX eine Regelung aufgenommen, dass die Leistungsträger der Eingliederungshilfe eine personenzentrierte Leistungserbringung sicherzustellen haben. Auch sollen die Leistungsträger Leistungsberechtigte bzw. ihre rechtlichen Betreuer*innen dabei unterstützen, Leistungen in Anspruch zu nehmen, § 106 SGB IX. Die Träger der Eingliederungshilfe müssen sich deswegen darum kümmern, dass es auch für Menschen mit Assistenzbedarf und Verhaltensauffälligkeiten besondere Wohnformen gibt. Ebenso müssen sie die Betreuer*innen und Menschen mit Assistenzbedarf bei der Suche nach einer neuen besonderen Wohnform unterstützen. In der Praxis hapert es hierbei an der Umsetzung, die Träger der Eingliederungshilfe sollten aber in jedem Fall um Unterstützung gebeten werden.
Hinweis:
Die Vorstände des Anthropoi Bundesverbandes und der Anthropoi Selbsthilfe haben sich in ihrer aktualisierten gemeinsamen Empfehlung zu § 8 Abs. 4 WBVG vom 29.01.2020 dafür ausgesprochen, dass eine Regelung in den Wohn- und Betreuungsvertrag aufgenommen werden soll, die für den Fall der Änderung des Pflege- oder Betreuungsbedarfs eines*r Bewohner*in ein Verfahren zur gemeinsamen Entscheidungsfindung ermöglicht. An dem Verfahren sollen neben dem LebensOrt, der Bewohner*in und der rechtlichen Betreuung auch unabhängige Dritte einbezogen werden. Wie dieses Verfahren konkret ausgestaltet wird, soll im Wohn- und Betreuungsvertrag geregelt werden. Die Empfehlung kann abgerufen werden unter https://anthropoi-selbsthilfe.de/services/zum-wohn-und-betreuungsvertrag/
(Mai 2021) RAin Sabine Westermann